Sommerschule 2009: "Geschichts-Korrekturen"
Promotionskolleg „Geschichte und Erzählen“
4.-8. Oktober 2009,
Geschichts-Korrekturen
Geschichtsschreibung bedeutet immer den Umgang mit überlieferten Geschichten,
indem diese geprüft, interpretiert und neu gefasst werden. Aber auch literarische und
mündlich tradierte Geschichten werden in der Rezeption und Neufassung
umgestaltet. Im konkreten Umgang von Gesellschaften mit ihren tradierten
Narrativen in unterschiedlichen Epochen existiert immer wieder eine Tendenz zur
Geschichts-Korrektur. Die Komplexität vermittelter Geschichte und der dahinter
stehenden narrativen Strategien erschließt sich also nicht allein im Aufschreiben,
sondern ebenso im Umschreiben und Fortschreiben von Vergangenheitserfahrungen
(Reinhart Koselleck). Es gibt somit nicht die eine Geschichte, wie sie
historistisch gewendet „eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke); vielmehr
existieren viele Deutungen der Vergangenheit nacheinander und nebeneinander, in
denen sich immer auch die jeweiligen Erfahrungen, Projektionen und Interessen von
Gesellschaften abbilden. Für das Verständnis solcher Deutungsgeschichten, die für
die Ausbildung von Erinnerungskulturen grundlegende Bedeutung haben, sind
Korrekturvorgänge kennzeichnend, sei es als Prozesse des Umschreibens, aber
auch der Aussonderung, der gelenkten Amnesie oder die Neuerfindung von
Traditionen.
In der Antike, wo auch Mythen als Teil der Geschichte gelten, spricht man in der
Forschung (Gehrke, Seidensticker) von „Mythen-Korrektur“ und „intentionaler
Geschichte“. Die mittelalterliche Bibelexegese entwickelt Strategien zur
Reinterpretation der Inhalte des Alten Testaments im Lichte der Heilsgeschichte; als
historisch geltende Ereignisse des Alten Testaments werden als Präfigurationen von
Ereignissen des Neuen Testaments gedeutet, ohne ihren wörtlichen Sinn zu
verlieren (Lehre vom mehrfachen Schriftsinn). Auch in den Erinnerungskulturen der
Moderne lassen sich Beispiele für Geschichts-Korrekturen finden, etwa in den
Deutungsgeschichten von nationalen lieux de mémoires, zumal in den komplexen
Semantiken von Denkmälern, in denen sich langfristige unterschiedliche
Bedeutungszuweisungen ganz unterschiedlicher historischer Zeitschichten ablagern
konnten. Das Verfahren der Geschichts-Korrektur hat auch in der Literatur seinen
Ort. Zu erwähnen sind etwa mittelalterliche Erzähltexte, die bekannte Stoffe
aufgreifen und je neu erzählen; entsprechend spricht die Mediävistik nicht von
Texten im modernen Sinn, sondern von mouvance (Zumthor). Die von Jauß geprägte
Rezeptionsästhetik beruht explizit auf der Annahme, dass das in einem als relevant
und kulturprägend wahrgenommenen Text (als Beispiel könnte man etwa die
Griselda-Novelle aus Boccaccios Decameron nennen) enthaltene Sinnpotential in
seinen Rezeptionsstufen historisch unterschiedlich aktualisiert wird.
Die diesjährige Curriculum Sommerschule des Promotionskollegs möchte den
Kollegiaten/-innen die Gelegenheit geben, das Phänomen der Geschichts-Korrektur
im Sinne der Umdeutung tradierter Narrative als ein Literatur, Historiographie und
visueller Kultur gemeinsames Element in historisch unterschiedlichen Ausprägungen
zu untersuchen. Theoretische Grundlagentexte sollen zur Vorbereitung gelesen
werden (ein entsprechender Reader wird zusammengestellt). Die Veranstalter und
zwei externe Gäste werden durch Impulsreferate in die Problematik einführen. Die
KollegiatInnen sollen die Gelegenheit erhalten, das eigene Projekt im Hinblick auf die
Problematik der Geschichts-Korrektur neu zu lesen und zu präsentieren.
Programm:
Sonntag, 4.10.
12 Uhr Abfahrt am Konzerthaus Freiburg (Treffpunkt am Haupteingang Konzerthaus)
ca. 19 Uhr Ankunft in Meran
Montag, 5.10.
9 Uhr Themenblock Mythenkorrektur
Einführender Vortrag von Prof. Dr. von den Hoff
Beiträge von Ingo Schaaf, Johanna Schwarz-Sprondel, Jan Müller und Thomas Winter
Dienstag, 6.10.
9 Uhr Themenblock Geschichte und Geschichten
Einführender Vortrag von Prof. Dr. Jörn Leonhard
Beiträge von Sonja Arnold und Simone Baum
Nachmittag Exkursion zur Burg Runkelstein
Mittwoch, 7.10.
9 Uhr Themenblock Rezeptionsästhetik
Einführender Vortrag von Prof. Dr. Thomas Klinkert
Beiträge von Julia Ilgner, Anita Gröger und Mario Willersinn
ca. 16 Uhr Abfahrt Meran
ca. 23 Uhr Ankunft in Freiburg
Teilnehmer:
- Prof. Dr. Ralf von den Hoff
- Prof. Dr. Jörn Leonhard
- Prof. Dr. Thomas Klinkert
- Swantje Arndt (Dissertationsthema: Die NS-Zeit im kommunikativen Gedächtnis. Untersucht an Uwe Johnsons Jahrestage/, Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, Ulla Hahns Unscharfe Bilder und Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene)
- Sonja Arnold ("Vielleicht bin ich niemand". Ich-Konzeptionen im Werk Max Frischs im Spiegel moderner und postmoderner Subjektdiskurse)
- Simone Baum (Fiktion und Geschichte bei Franois Rabelais)
- Katharina von Koenen (From "cosmic race" to post-identity transpositions. A comparative approach to the study of Aztec mythology in transistional periods of Chicano literature)
- Anita Gröger (Der erzählte Zweifel an der Erinnerung. Poetische Transformationen einer Denkfigur im neueren deutschen Roman)
- Julia Ilgner (Der "Mythos Medici" in der deutschen Literatur von 1860 bis 1945)
- Elisabetta Lupi (Die Sybaritikoi Logoi und andere Erzählungen über Sybaris. Analyse und Interpretation)
- Jan Müller (Schriftgestalten. Art des Schreibens und Kunst des Erzählens in der griechischen Welt der Bilder)
- Ingo Schaaf ("...wahrlich großes Erstaunen durchweht meine Sinne!" Zur Darstellung von Kult, Magie und Mirabilien in den Argonautika des Apollonios Rhodios)
- Johanna Schwarz-Sprondel ("...Mythos sub specie temporis nostri..." Überlegungen zum Mythos als Form der Geschichtsrepräsentation am Beispiel von James Joyce Ulysses)
- Mario Willersinn (Texte sehen hic et nunc. Bild, Zeit und La Guerra Civil im spanischen Theater)
- Thomas Winter (Tradition und Erkenntnis. Philosophische Untersuchungen zu einer hermeneutischen Traditionstheorie)